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07
September
scham.
ich habe in den letzten wochen stephen pinkers großartiges buch 'gewalt' gelesen. was mir besonders aufgefallen ist, in dem kapitel über völkermorde war seine aussage, dass die allgemeine ächtung von völkermorden erst mit dem holocaust einsetzte. gleichzeitig beschreibt er auch eine veränderung in der wahrnehmung der überlebenden: vor der erschaffung des wortes genozid in den 40ern war es eine häufige reaktion der überlebenden opfer, sich für die geschehnisse zu schämen, die schuld für den exzess darin zu suchen, dass das eigene verhalten den täter zu sehr provoziert hat.

ein klassischer paradigmenwechsel also. erinnerte mich etwas an pococks macchiavellischen moment, bei dem man begann plötzlich anders über die ungewissheit nachzudenken und sie als etwas positives zu empfinden. oder so. zumindest schreibt es ein finnischer professor so ... und der muss es ja wissen.

um aufs thema zurückzukommen: die reaktion der scham. nach unten schauen und sich verkrümeln. sie war mir jetzt mal wieder aufgefallen. ich war abends ne halbe stunde vor ladenschluss einkaufen und an der kasse vor mir steht ein typischer alko. das bild sieht man häufiger, hier in sachsen. meistens sind es männer etwa mitte 50 bis ende 60, riechen etwas, seit ner woche nicht rasiert, klamotten aber einigermaßen sauber. wenn man mit ihnen redet, ist es am ende immer gleich: die wende, erst keinen neuen job gefunden, dann scheidung und ab da gings nur noch bergab. die miete wird vom amt überwiesen, der rest von der rente wird in alk umgesetzt. jedenfalls steht so einer vor mir an der kasse, die meisten leute haben sich an die andere kasse gestellt. er riecht etwas. sein einkauf bestand aus einer banane, 25 cent. er gibt einen pfandbon hin, noch 15 cent. er kramt in seinem porte-monnaie. er schaut traurig. nach etwas hin- und herkramen findet er ein 10 cent und ein 5 cent stück. das restliche porte-monnaie war komplett leer.

ich kann sowas nicht sehen, da kommts mir immer hoch. hätte er eine bierflasche gekauft, hätte ich kein mitleid, wahrscheinlich eher wut. aber es ist der anfang vom monat, noch locker 2 wochen bis das amt zahlt und er kauft sich ne banane mit nem pfandbon. ich packe von meinem großen einkauf eine rolle rosinenbrötchen und eine packung rindfleischknacker vorne hin, die kassiererin zieht es als erstes durch. ich nehm die zwei dinger, geh rüber zur einpacktheke, wo er immer noch steht und in seiner leeren geldbörse rumkramt. ich leg das zeug hin und sag zu ihm, er soll es mitnehmen, es ist für ihn. er schaut mich an, schaut nach unten und kramt weiter, ich geh zur kasse zurück und pack mein restliches zeugs in den wagen. bezahle und geh mit meinem wagen zur einpacktheke. das zeug liegt noch da, genauso wie vor 2 minuten. ich pack es mit ein, wer nicht will der hat schon, und um ehrlich zu sein: ich hab auch nicht sonderlich viel. draußen vor dem laden ist es dunkel geworden, die straßenlaternen werden zum großteil von ein einer gruppe bäumen verdeckt, aber ich sehe ihn wie er ein paar meter weg im dunkeln steht und seine banane isst. ich fühle mich irgendwo zwischen enttäuscht und wütend. vor allem ohnmächtig. ich gehe in die andere richtung, wenn er mich nach dem bier fragt, was rechts und links in den außentaschen meines rucksacks steckt, muss ich ihm glaube ich ins gesicht schlagen.

auf dem nachhauseweg denke ich drüber nach. hab ja genug zeit. warum fühlt er sich schuldig, sich nichts essen kaufen zu können? er kann nichts dafür, dass er seinen job verloren hat. sucht ist auch eine krankheit und nur zum kleinsten teil selbstverschuldet. ich verstehe es einfach nicht. und da kam es mir. die scham über die eigene qual, über erlittenes unrecht. sie ist in den menschen drin, denn es wurde ihnen ihr leben lang so erzählt. bis zu dem tag, an dem sie begreifen, dass es nicht ihre schuld ist. bis zu dem tag, an dem nicht mehr die produktivität entscheidet.

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